Presseberichte 2002

 

 
Über den Begriff "Secondo"
(Daniela Palumbo, SonntagsZeitung, 5. Mai 2002)
 
Secondos sind so gewalttätig nicht
(Marc Spescha, Leserforum Tages-Anzeiger, 10. Mai 2002)
 
Secondos
(Catalin Dorian Florescu, Züritipp, 17. Mai 2002)
 
Gleicher Schulabschluss - halbe Chancen
(Silvia Oberhänsli, InfoSüd/ Tages-Anzeiger, 8. August 2002)
 
Al-Kaschaf: Die erste islamische Pfadi
(Karina Rierola, sda/Tages-Anzeiger, 21. August 2002)
 
Vonlanthen für die Schweiz
(SonntagsBlick, 1.September 2002)
 
Ohne Einwanderung läuft nichts
(Aargauer Zeitung, 14. September 2002)
 
Die Zeichen der Zeit verstanden
(Thomas Gubler, Basler Zeitung, 17. September 2002)
 
Interview Miss Schweiz Nadine Vinzens
(Jeanette Kuster, Schweizer Familie, Nr. 39, 26. September 2002)
 
Hollywoodstar hilft Lehrstellen besetzen
(Conny Schmid, Tages-Anzeiger, 1. November 2002)
 
Schweizer Tamilen
(Daniel Suter, Tages-Anzeiger, 26. November 2002)
 
Locker wie Latinos
(Daniel Blickenstorfer, Facts, 31. Dezember 2002)
 
 
 
 
Die neuen Sündenböcke
 

Über den Begriff "Secondo"

"Meistens vergesse ich, dass in meiner Tasche an Stelle eines roten Schweizer Passes ein grüner Ausländerausweis liegt. Diese Woche wurde ich aber zweimal daran erinnert, dass auch ich eine "Seconda", eine Ausländerin zweiter Generation bin.

Am Montag steckte im Briefkasten ein Brief des Personenmeldeamts der Stadt Zürich mit der Aufforderung, meine Niederlassungsbewilligung C zu verlängern, die alle drei Jahre fällig wird - für "Secondos" eine Formsache und doch eine wiederkehrende Quelle des Ärgers.

Gemäss Antragsformular gibt es nur zwei Gründe, warum Ausländer in der Schweiz wohnen dürfen: Arbeit oder Studium. Dass Tausende Ausländerkinder in der Schweiz zur Welt gekommen sind und hier leben, weil die Schweiz ihre Heimat ist, scheinen die Behörden nicht begriffen zu haben. In meinem Ausländerausweis steht nicht, dass ich in der Schweiz geboren bin, sondern dass ich am Tag meiner Geburt in die Schweiz eingereist bin. Viele "Secondos", ob mit oder ohne "Gel in den Haaren" (NZZ vom Donnerstag), lassen sich nicht einbürgern - aus Protest gegen die Einbürgerungsformalitäten. Warum sollen sie sich von Schweizermachern prüfen lassen, wenn sie hier die Schulen besucht haben, warum für einen Schweizer Pass Tausende Franken hinblättern, wenn dieser ihnen von ihrem Gefühl her eigentlich umsonst zustünde?

Am Mittwoch musste ich mich wieder ärgern, diesmal über die Zürcher Stadträtin Esther Maurer. Nach den Ausschreitungen am 1. Mai sprach sie vom starken Auftreten jugendlicher "Secondos" als Krawallmacher. Bevor feststand, wie viele der Festgenommenen tatsächlich "Secondos" waren, schuf Maurer mit ihrer unreflektierten Verwendung des Begriffs "Secondo" neue Sündenböcke. Darunter verstehe sie alle Leute ausländischer Herkunft, eingebürgerte oder nicht eingebürgerte, präzisierte sie. Liebe Frau Maurer, was nützen Integrationsbemühungen, wenn Sie Jugendliche ausländischer Herkunft, ob mit oder ohne Schweizer Pass, als "Secondos" voreilig an den Pranger stellen?"

(Daniela Palumbo, SonntagsZeitung, 5. Mai 2002)

 
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Secondos sind so gewalttätig nicht
 

"Die Stadtzürcher Polizeivorsteherin ortete noch am Abend des 1.Mai 2002 vor laufenden Fernsehkameras in den Secondos die Urheber der Krawalle und ortete dringenden integrationspolitischen Handlungsbedarf. Die Printmedien hieben tags darauf in dieselbe Kerbe. (....). Gerade mal 30 Prozent waren also Nichtschweizer. Zieht man hiervon die Deutschen ab, kommen als Secondos noch knapp 50 Personen oder 24 Prozent der Verhafteten in Frage. Bedenkt man, dass der Ausländeranteil in Zürich 29 Prozent beträgt, derjenige der ausländischen Jugendlichen und jungen Männer ohne Schweizer Pass im Kreis 4 über 40 Prozent, ist ausserordentlich bemerkenswert, dass die Secondos im Vergleich zu den Schweizern gleichen Alters derart deutlich untervertreten waren! Eine korrekte politische Abbildung der Wirklichkeit hätte also allenfalls von gewaltbereiten, apolitischen männlichen Jugendlichen berichtet. Stattdessen wurden Secondos als Gewalttätige stigmatisiert, damit verbreitete Vorurteile über kriminelle Ausländer bedient. Integrationspolitisch ist das weit verheerender als die Tatsache, dass auch jugendliche Immigrantenkinder am Krawall beteiligt waren."

(Marc Spescha, Leserforum Tages-Anzeiger, 10. Mai 2002)

 
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Secondos
 

"Da wähnen wir uns in Ruhe und Sicherheit, und der 1. Mai bricht ein. Da besteht das sanfte Leben der Schweizerin darin, ihren Freund zu mehr Kommunikation zu stimulieren und dazu, auf ein Häuschen zu sparen. Und kommunikativer zu werden, sonst verweigert sie ihm Sex. Das heisst zumindest kompetenter zu stöhnen. Und dann bricht die Welt ein in den Schlaf der Schweizer. Zürich Kreis 4. Oder in denjenigen der Deutschen. Erfurt. Oder in denjenigen der Amerikaner. Highschool soundso. Da denkt man also, dass man Gewalt und Armut erfolgreich exportiert, während zu Hause nur die anspruchsvolle Freundin zu fürchten ist, und schon grassiert die Gewalt daneben. Kollektives Trauern setzt ein, bevor der Spass weitergeht. Der Kanzler weiss, dass die Welt mit ihm trauert. Krokodilstränen. Mit den Kurden, die mit deutschen Waffen gemordet wurden, trauern nur die Kurden und ein paar Idealisten.

Gemessen am Amokpotenzial der Deutschen und der Amerikaner ist die Schweiz die reinste Parodie. Man wirft Steine um 14 Uhr, plündert um 15 Uhr, setzt Autos in Brand um 16 Uhr und löst sich um 18 Uhr wieder auf. Einmal im Jahr, um das Establishment nicht zu stören, schweizerische Bescheidenheit. Aber dank Esther Maurer wissen wir, dass es importierte Gewalt war. Secondos im weitesten Sinne, meinte sie. Auch wenn von 213 Registrierten 151 Schweizer waren. Einmal Ausländer, immer Ausländer sozusagen. Gewalttätige Schweizer? Ausländer auch die. Ich wage nicht zu denken, was wäre, wenn ein Secondo Erfurt verursacht hätte. Ja, es gibt eine Krise im System. Denn die Gewalt ist kein Privileg der Secondos. Kein mexikanischer Junge hat Leben in einer Highschool ausgelöscht. Kein türkischer Junge ist in Erfurt Amok gelaufen. Während die Eltern - weiss und nicht eingewandert - erfolgreich produktiv und erfolgreich verdumpft sind, rückt die zweite Generation nach und richtet den Schaden an, zu dem sie fähig ist. Keine Werte, keine Sprache, sondern Mordswut. Das System der Eltern wird zum Dämon ihrer Kinder. Insofern sind sie alle Secondos: Nachfolger einer verbrauchten Elterngeneration. Und alle sind Verlierer. Die Eltern durch den Hirnschlag und das Magengeschwür, die Kinder durch das Einzige, was noch ihr Ureigenstes ist: die Leere. Denn internationalisiert hat sich nicht nur der Kapitalismus, sondern auch das Leiden. Es fällt auf uns zurück, was wir anderen antun.

(Catalin Dorian Florescu, Züritipp,17. Mai 2002)

 
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Gleicher Schulabschluss - halbe Chancen
 

Ausländische Jugendliche sind nach Abschluss der obligatorischen Schule bei der weiteren Ausbildung, insbesondere bei der Berufs- lehre, massiv benachteiligt.Noch immer suchen zahlreiche Schulabgänger eine Lehrstelle - oft erfolglos. «Für ausländische Jugendliche ist es wesentlich schwieriger, eine Lehrstelle zu finden als für Schweizer und Schweizerinnen», zieht Manfred Fasel von der Berufsberatung der Stadt Zürich Bilanz. Gerade dieses Jahr laufe die Suche harzig, vor allem für Ausländer und Ausländerinnen, neuerdings aber auch für Schweizer. Fasel hat erlebt, dass Firmen einen Lehrling abwiesen, nachdem sie gehört hatten, dass dessen Name auf -ic endet. Zahlreiche Jugendliche - so glaubt Fasel - werden dieses Jahr keine Lehrstelle finden. Schlimm sei, dass viele resignierten und nicht mehr ansprechbar seien.
In der Tat: Bei der Lehrstellensuche haben längst nicht alle die gleichen Erfolgsaussichten, wie aus der gesamtschweizerischen Erhebung «Barometer der Lehrstellen» der letzten fünf Jahre hervorgeht: Während von den im April an einer Lehrstelle Interessierten jeweils im August bei den Schweizer Jugendlichen zwischen 74 und 82 Prozent eine Lehrstelle hatten, waren es bei den Ausländern lediglich zwischen 58 und 68 Prozent.

Sogar Sekschüler haben es schwer

Gleicher Schulabschluss heisst noch keineswegs gleiche Chancen: So traten im Kanton Zürich von den Absolventen der Oberschule (tiefe Anforderungen) 67 Prozent der Schweizer Jugendlichen eine Lehrstelle an gegenüber lediglich 35 Prozent bei den Ausländern und Ausländerinnen mit demselben Abschluss.
Die Chancen eines ausländischen Sekundarschülers (hohe Anforderungen), nach Schulabschluss eine Berufsbildung oder eine weiterführende Allgemeinbildung zu machen, sind im Kanton Zürich gemäss einer Studie (2001) von Bildungswissenschaftler Romano Müller nur etwa gleich gross wie jene eines Oberschülers schweizerischer Herkunft.
Ausländische Jugendliche haben nicht nur in der obligatorischen Schule schlechtere Karten - wie die Pisa-Erhebung gezeigt hat -, sie sind auch bei den Berufslehren massiv benachteiligt und stark untervertreten, vor allem bei Lehren mit hohem Anspruch. Eine Mittelschule besuchen nur 10 Prozent der Ausländer gegenüber 20 Prozent bei den Schweizern. Und lediglich 55 Prozent machen überhaupt eine nachobligatorische Ausbildung, während es bei den Schweizern 78 Prozent sind.
Um die Integration fremdsprachiger Jugendlicher in die nachobligatorische Bildung zu fördern, hat die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) nun eine Reihe von Empfehlungen ausgearbeitet. Diese sind in der Vernehmlassung begrüsst worden, sodass sie laut EDK voraussichtlich schon Anfang 2003 verabschiedet werden.

67 Prozent ohne weitere Ausbildung

Im Empfehlungsentwurf werden die Betriebe eingeladen, fremdsprachige Jugendliche verstärkt zu integrieren und bei Aufnahmeverfahren den Wert an sprachlicher Kompetenz in der Erstsprache mehr zu gewichten. Als Grund für die Untervertretung ausländischer Jugendlicher bei den Berufslehren führt Romano Müller unter anderem an, dass viele Betriebe Ortssprache und besuchten Schultyp als wichtigste Selektionskriterien betrachten. In beiden sind ausländische Schüler im Nachteil, zumal bereits bei der Zuteilung in einen bestimmten Schultyp die Schulsprache eine dominante Rolle spiele. Zudem ist laut Romano Müller eine Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt «wahrscheinlich». Hinzu komme, dass die Empfehlung der Lehrer an die Lehrbetriebe zu sehr auf der Deutschleistung der Schulabgänger basiere.
Gemäss Müllers Studie «Die Situation der ausländischen Jugendlichen auf der Sekundarstufe II» machen bei den 16- bis 20- jährigen Ausländern nur 38 Prozent eine Berufslehre, 45 Prozent bleiben ohne nachobligatorische Ausbildung. Bei den Schweizern entscheiden sich 52 Prozent für eine Lehre, 22 Prozent absolvieren keine weitere Ausbildung.
Besonders bedrückend ist die Situation für Jugendliche aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien: Nur 25 Prozent kommen in eine Berufslehre - meist mit tiefem Anforderungsniveau -, 67 Prozent bleiben ohne Ausbildung.

(Silvia Oberhänsli, InfoSüd/ Tages-Anzeiger, 8. August 2002)

 
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Al-Kaschaf: Die erste islamische Pfadi
 

Baumhütten bauen als Mittel zur Integration: Die Pfadi Zürich hat ein neues Korps erhalten. Ein Pilotprojekt.

Al-Kaschaf ist arabisch und heisst Pfadfinder. Die erste islamische Pfadi der Schweiz gehört seit April offiziell zur Pfadi Zürich und will beweisen, dass Integration auch über Baumhüttenbauen möglich ist.
Nein, sie üben nicht für den Dschihad, den heiligen islamischen Krieg. Nein, sie sind auch keine verkappte politische Organisation. Rachid Oulouda, 19-jähriger Maturand und Al-Kaschaf-Sprecher, kann nur den Kopf schütteln, wenn er solches zu hören bekommt. Doch es ist ja nicht das erste Mal. Zu gut erinnert er sich an die Drohungen und Beschimpfungen im Gästebuch der Homepage von Al-Kaschaf kurz nach dem 11. September. Sie haben aber längst aufgehört, und gelassen gibt Oulouda Auskunft, was Al-Kaschaf sein will: eine soziale Vereinigung, die wie alle anderen Pfadi-Korps Orientierungsläufe durchführt und zu Übungen ruft, dabei aber den Islam bewusst thematisiert, seine Gebetszeiten, Ess- und Trinkgebote berücksichtigt. Sie sei so verschieden von der übrigen Pfadi wie etwa katholische Pfadiabteilungen.

Initiiert von jungen Secondos

Und doch ist Al-Kaschaf mehr: Es ist ein Integrationsprojekt, im November 1999 initiiert von jungen Secondos mit muslimischen Eltern. Für die Pfadi Züri zudem ein Pilotprojekt, das im Idealfall in der ganzen Schweiz Nachahmung findet.
«Die Idee entspricht dem Grundgedanken der Pfadi, die für alle offen ist», sagt Dominik Ebert von Pfadi Züri, dem mit 9000 Mitgliedern grössten Kantonalverband der Schweizer Pfadfinderbewegung. Im Februar 2000 trat Al-Kaschaf an den Verband heran, erhielt provisorischen Status und ist seit April 2002 ein offizielles Korps der Pfadi Züri. Noch fehlen den rund 50 Männern und 20 Frauen von Al- Kaschaf die Pfadiuniformen, doch im September sollte es so weit sein, sofern es Geld gibt. Noch erhält Al-Kaschaf das Material von anderen Korps, doch Subventionsanträge an Kanton und Bund sind gestellt.
Integration tönt gut. Doch wie vollziehen? Läuft eine separate Pfadiabteilung der Integration nicht gerade zuwider? Für solche Fragen nahmen sich Al-Kaschaf und Pfadi Züri viel Zeit, wie aus den differenzierten Antworten von Ebert und Oulouda klar wird. «Die Realität und die Praxis zwangen uns, den grössten gemeinsamen Nenner zu finden. Dieser ist mit unserer Organisationsstruktur gegeben», begründet Ebert den gewählten Separat-Weg. «Integration kann nur langsam stattfinden.» Eine Einsicht, zu der auch Oulouda und seine Kollegen von Al-Kaschaf aus eigener Erfahrung gekommen sind.
Oulouda, Sohn einer zum Islam konvertierten Schweizerin und eines Marokkaners, spricht von sich, aber auch aus den Herzen der Bosnierinnen, Libanesen und anderer Al-Kaschaf-Mitglieder: «Wir leben gespalten, in zwei Welten und switchen ständig von der einen zur anderen. Oft zerreisst uns dies.» Fatalerweise würden sich die meisten Jugendlichen irgendwann für eine der beiden Welten entscheiden. «Al-Kaschaf will zeigen, dass man auch leben kann, ohne sich ständig zweiteilen oder überanpassen zu müssen.»

Keine Überanpassung

Eine Überanpassung hätte gedroht, wenn die Integration schnell und individuell angegangen worden wäre, erklärt Oulouda. «Hätten wir uns auf die anderen Pfadi-Korps verteilt, würde jeder von uns allein vor vielen "normalen Pfadis stehen und sich überanpassen». Zudem fehle es an sensibilisierten Leitern, der Aufwand wäre zu gross. Zu tun gibt es ja ohnehin genug: Noch gewöhnt man sich vorwiegend auf Kaderebene aneinander, die Korpsleiter treffen sich regelmässig, man teilt das Sekretariat und besucht die gleichen Ausbildungskurse. Nächstes Jahr soll es endlich so weit sein: Austauschabende zwischen den Korps, Turniere, Lager und Altpapiersammlungen sollen dafür sorgen, dass Integration mehr ist als Theorie.

(Karina Rierola, sda/Tages-Anzeiger, 21. August 2002)

 
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Vonlanthen für die Schweiz
 

Mit Johan Vonlanthen (16) hat sich wieder ein Secondo für die Schweiz entschieden. Auf die U17-EM hat das YB-Talent noch verzichtet, um sich für Kolumbien frei zu halten. Das Aufgebot von U21-Naticoach Bernard Challandes nahm der Stürmer jetzt an.

(SonntagsBlick, 1.September 2002)

 
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Ohne Einwanderung läuft nichts
 

MIGRATION · Jeder dritte Bewohner der Schweiz ist eingewandert

In der Schweiz ist jeder dritte Bewohner aus dem Ausland eingewandert oder ein direkter Nachkomme von Migranten. Ein Viertel der Ausländer zählte im vergangenen Jahr zur zweiten oder dritten Generation, wie das BFS am Freitag mitteilte. Im Jahr 2001 lebten 2,4 Millionen Migranten oder Nachkommen von Migranten in der Schweiz, was 33 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung entspricht, wie aus der Analyse des Bundesamtes für Statistik (BFS) hervorgeht. Zwei Drittel oder 1,4 Millionen der jugendlichen oder erwachsenen Ausländer sind selbst eingewandert. Ein Drittel oder 700 000 sind in der Schweiz geboren, haben aber mindes-tens ein Elternteil, der seinerseits in die Schweiz eingewandert ist.
Zu den Migranten zählen gemäss BFS auch 93 000 Auslandschweizer, die in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Neun von zehn Migranten kamen als Ausländer in die Schweiz. Davon besitzen 961 000 Jugendliche und Erwachsene (75 Prozent aller ausländischer Einwanderer) auch heute noch nur einen ausländischen Pass. Dies trifft ebenfalls auf rund 76 000 Kinder im Alter von unter 15 Jahren zu.

Ausländer über mehrere Generationen

Rund 5,7 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, sind auch in der Schweiz geboren, wie das Bundesamt schreibt. Vier Fünftel davon haben Eltern, die beide in der Schweiz geboren wurden. Die übrigen sind Nachkommen von Migranten. Bei 38 Prozent dieser Nachkommen sind sowohl der Vater als auch die Mutter im Ausland geboren. Bei 39 beziehungsweise 23 Prozent jeweils nur die Mutter oder der Vater.
333 000 aller in der Schweiz geborenen Jugendlichen und Erwachsenen besassen bei Geburt eine ausländische Staatsangehörigkeit; rund die Hälfte davon hat bis heute den Schweizer Pass noch nicht erworben. 150 000 jugendliche und erwachsene Ausländer gehören gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebeung (Sake) der zweiten Generation an. Bei 200 000 Menschen handelt es sich um Ausländer der dritten Generation. Im Jahr 2001 lebten 195 000 Kinder (unter 15 Jahren) in der Schweiz, die ebenfalls zur zweiten oder dritten Ausländergeneration zu zählen sind.

Ein Drittel der Eingebürgerten wurden in der Schweiz geboren

437 000 jugendliche oder erwachsenen Schweizer haben den Schweizer Pass durch Einbürgerung erworben. Dazu kommen rund 25 000 Kinder, die sich seit 1986 haben einbürgern lassen. Etwas mehr als ein Drittel der Eingebürgerten ist in der Schweiz geboren. Gemäss Schätzungen des BFS könnten heute rund 738 000 Ausländerinnen und Ausländer das Schweizer Bürgerrecht erwerben, erfüllen sie doch die geltenden gesetzlichen Wohnsitzfristen des Bundes. (ap)

(Aargauer Zeitung, 14. September 2002)

 
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Die Zeichen der Zeit verstanden
 

Die Willkürakte von Emmen und Pratteln, wo Einbürgerungswilligen der Schweizer Pass einzig wegen ihres Herkunftslandes verweigert worden war, scheinen ihre Wirkung auf die eidgenössische Politik nicht verfehlt zu haben. Der Nationalrat jedenfalls hat die Zeichen der Zeit offenbar erkannt und zeigt sich entschlossen, weiteren Imageschaden dieser Art vom Land abwenden zu wollen.
Anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass die Grosse Kammer gestern die Revision des Bürgerrechtsgesetzes fast schon im Eilzugstempo durchgeboxt hat. Und was noch mehr erstaunt: Die liberalen Reformvorschläge des Bundesrats - kürzere Fristen für die ordentliche Einbürgerung, erleichterte Einbürgerung für die zweite Ausländergeneration, Bürgerrecht für die die dritte Generation bei der Geburt und Beschwerdemöglichkeit ans Bundesgericht bei willkürlicher Verweigerung - wurden praktisch ohne Abstriche gutgeheissen.
Vor überbordendem Optimismus sei indessen gewarnt: Denn noch ist das - für die national-konservative Ratsseite überladene - Fuder längst nicht im Trockenen. Der Entscheid des Ständerats folgt erst. Und dabei erscheint insbesondere der mit Stichentscheid der Ratspräsidentin gefasste Beschluss betreffend die dritte Ausländergeneration alles andere als gefestigt. Von der Volksabstimmung ganz zu schweigen.
Denn dass über dieses Reformprojekt schliesslich an der Urne entschieden wird, ist jetzt schon so gut wie sicher. Caspar Baader, der Fraktionschef der gestern auf der ganzen Linie unterlegenen SVP, liess jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, wie die Blocher-Partei auf diese Niederlage reagieren wird - mit dem Ergreifen des Referendums nämlich.

(Thomas Gubler, Basler Zeitung, 17. September 2002)

 
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Interview Miss Schweiz Nadine Vinzens
 

Jeanette Kuster stellt Prominenten aktuelle Fragen

(...)

Schweizer Familie: Der Nationalrat will die Einbürgerung von Ausländern der zweiten und dritten Generation erleichtern. Was halten Sie davon?

Nadine Vinzens: Ich finde das richtig. Junge Leute, die hier zur Welt gekommen und aufgewachsen sind, kennen meist keine andere Heimat. Die sollten den Schweizer Pass erhalten.

(...)

(Jeanette Kuster, Schweizer Familie, Nr. 39, 26. September 2002)

 
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Hollywoodstar hilft Lehrstellen besetzen
 

Hollywoodstar hilft Lehrstellen besetzen

Bei der Lehrstellensuche haben es ausländische Jugendliche oft besonders schwer. Viele Arbeitgeber scheuen den zusätzlichen Aufwand für Bewilligungen. Jetzt soll Marilyn Monroe helfen.

Aufgewachsen im Waisenhaus und bei Pflegeeltern hat sie es trotz schwierigen Voraussetzungen bis ganz nach oben geschafft: Hollywoodstar Marilyn Monroe. So weit gekommen ist sie laut eigenen Aussagen aber nur, weil sie auf Menschen traf, die ihr eine Chance gaben. Und genau dazu werden nun Zürcher Arbeitgeber aufgefordert: auch jungen Menschen mit schwieriger Biografie eine Chance zu geben. So lautet die Botschaft der neuen Informationskampagne der Zürcher Konferenz Bildungschancen für Jugendliche (Bifj). Auf Flugblättern und Karten wirbt Bifj bei Firmen für die Einstellung von Lehrlingen und Lehrtöchtern ausländischer Herkunft. Neben dem Konterfei des Kinostars heisst es schlicht: «Marilyn, Norma, Leyda, Özlem und wie sie alle heissen». Auf der Rückseite findet sich der Steckbrief einer ausländischen jungen Frau, der eine Chance gegeben wurde.

Hinter Bifj steht eine Vielzahl sozialer Institutionen, die im Bereich Jugendarbeit und Bildung tätig sind. Dazu gehören die Asyl-Organisation, der Job-Shop des Zürcher Jugendfoyers, die Abteilung interkulturelle Pädagogik der kantonalen Bildungsdirektion, die Berufsberatung der Stadt Zürich oder der Ergänzende Arbeitsmarkt (EAM) des städtischen Sozialdepartements. Vor gut zwei Jahren habensie sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen mit dem Ziel, die Stellenvermittlungs- und Ausbildungsangebote für Jugendliche zu koordinieren.

Situation hat sich verschlechtert

Das Problem, welches jetzt zur ersten gemeinsamen Kampagne führte, ist an sich nicht neu: Auf dem Lehrstellenmarkt haben es Schülerinnen und Schüler mit schwachen Leistungen und damit vor allem Jugendliche ausländischer Herkunft besonders schwer. «Bewerber mit fremd klingenden Namen oder mit dunkler Hautfarbe haben geringere Chancen, eine Lehrstelle zu finden. Das stellen wir immer wieder fest», sagt etwa Bert Höhn, Vizedirektor des Stadtzürcher Laufbahnzentrums. In den letzten zwei Jahren habe sich die Situation verschlechtert. Zwar gibt es nicht unbedingt zu wenig Lehrstellen. Von 3800 gemeldeten Lehrstellen in der Stadt sind immerhin 105 noch nicht besetzt. Doch Nachfrage und Angebot decken sich nicht. Will heissen: Offen sind vor allem noch Stellen in der zurzeit nicht sehr begehrten Handwerkerbranche. Für beliebtere Stellen wiederum finden sichaus Sicht der Arbeitgeber nicht genügend geeignete Schulabgänger.

Enorm lange Wartelisten

Am heutigen 1. November fällt der Startschuss zur Selektion der Lehrlinge vom kommenden Sommer. Gleichzeitig stehen laut Höhn schätzungsweise 180 Schulabgänger des letzten Sommers immer noch ohne konkrete Zukunftspläne da. Das heisst, sie haben weder eine Lehrstelle in Aussicht, noch haben sie Unterschlupf bei einem der Überbrückungsprojekte gefunden, wie etwa bei einem Motivationssemester des EAM. Dagmar Bach, Leiterin der EAM-Abteilung Berufsbildung und Integration, bestätigt: «Die Wartelisten sind enorm lang. Die Plätze in den Motivationssemestern waren kaum je so schnell besetzt wie dieses Jahr.» Gleichzeitig werde es immer schwieriger, Betriebe zu finden, die Praktikumsstellen anbieten. «Die Arbeitgeber sind immer seltener bereit, Risiken einzugehen.»

Flüchtlinge als Lehrlinge

Dass bei der Lehrstellensuche ausländische Jugendliche häufig benachteiligt werden, liegt nicht immer an Vorurteilen oder schwächeren schulischen Leistungen. Oft scheuen die Arbeitgeber den zusätzlichen Aufwand, der bei der Einstellung von Jugendlichen mit Aufenthaltsstatus F (Flüchtling) oder N (im Asylverfahren) auf sie zukommt. Dazu müssen bei mehreren Stellen verschiedene Bewilligungen eingeholt werden. «Viele wissen auch gar nicht, dass man junge Leute mit F-Ausweis überhaupt ausbilden kann», sagt Dagmar Bach. Erwachsene mit F-Ausweis dürfen laut Gesetz nämlich nur in einigen wenigen Branchen arbeiten. Bei Jugendlichen ist die Branchenregelung aber teilweise aufgehoben. «Ausserdem erhalten sie später sehr oft eine Aufenthaltsbewilligung B und können somit auch im gelernten Beruf arbeiten.» Tipps und aktive Unterstützung für Arbeitgeber bietet ab November die Homepage der Kampagne sowie der Job-Shop an der Zweierstrasse.

Und was hat der Ausbildungsbetrieb davon, junge Flüchtlinge auszubilden? «Die Firma erhält als Gegenwert junge Mitarbeiter mit frischen Ideen und Elan», so Dagmar Bach. Solche Menschen seien Hindernisläufe nämlich gewohnt und deshalb oft besonders motiviert.

(Conny Schmid, Tages-Anzeiger, 1. November 2002)

 
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Schweizer Tamilen
 

Wie einst den Italienern geht es den Tamilen: Viele Eltern träumen von der Heimkehr, ihre Kinder aber sind hier zu Hause.

«Wir leben zwei Leben gleichzeitig, als Tamilen und als Schweizer. Die Älteren fürchten, ihre eigene Kultur und Sprache zu verlieren, wenn sie sich integrieren.» Alagipody Gunaseelan gehört zur Elterngeneration, 1990 kam er mit seiner Frau und zwei Kindern als Bürgerkriegsflüchtling aus Sri Lanka in die Schweiz. Heute arbeitet er im Pflegebereich und engagiert sich als Kulturvermittler zwischen Tamilen und Schweizern. Dass er als Erwachsener kam, hört man. «Deutsch ist nicht meine Muttersprache», sagte er am Donnerstagabend, als Tamilinnen und Tamilen über ihre Kultur und ihr Leben in der Schweiz informierten.

Es war die dritte und letzte von drei gelungenen und gut besuchten Podiumsveranstaltungen im Restaurant «Falken» bei der Schmiede Wiedikon. Die Abende organisiert hatte das Projekt eigen.art, für welches das Sozialdepartement eigenartigerweise im kommenden Jahr kein Geld mehr hat.

«Warum sollte ich nach Sri Lanka?»

Neben Gunaseelan sassen auch drei Junge auf dem Podium, die hier in der Schweiz aufgewachsen sind: ein stellvertretender Geschäftsführer eines Restaurants, eine Oberstufenschülerin und eine kaufmännische Angestellte. Alle drei sprachen perfekt und beredt Schweizerdeutsch. Ihr Bekannten- und Freundeskreis ist so gemischt wie die Quartiere, in denen sie wohnen und arbeiten. Rein tamilisch sind noch das Elternhaus und allenfalls die Tempeltanzgruppe, in welcher Frauen sich am Wochenende treffen. «Warum soll ich nach Sri Lanka gehen?», sagte die junge Angestellte. «Hier habe ich meinen Beruf - dort könnte ich keinen lernen, sondern müsste zu Hause sitzen und für den Mann kochen und waschen.»

In der Küche lernt man kein Deutsch

«Die erste Generation könnte vielleicht noch zurück - aber die zweite? Vergessen Sie das», sagte Gunaseelan. Darum forderte er seine Generation energisch auf, Deutsch zu lernen, um sich besser zu integrieren. Das stiess auf Widerspruch im Publikum. «Wie soll sich jemand integrieren, wenn er hier keinen sicheren Boden unter den Füssen hat? Wenn er nie weiss, ob und wann er zurückgeschickt wird?», fragte eine junge Tamilin. «Viele Flüchtlinge sind seit zehn und fünfzehn Jahren hier und haben noch immer bloss denStatus "vorläufig aufgenommen .» Das hat negative Folgen, auch für die Kinder: Mit dem unsicheren Aufenthaltsstatus im Ausweis finden sie viel schwerer eine Lehrstelle.

Ein anderes Hindernis ist die Arbeit. Achtzig Prozent der tamilischen Einwanderer sind im Gastgewerbe beschäftigt, und das heisst höchste Stundenzahlen zu niedrigsten Ansätzen. Wer derart eingespannt ist, hat kaum die Musse, Deutsch zu lernen. Darum wird die eigentliche Integration wohl erst von der nächsten Generation geleistet.

«In Sri Lanka kenne ich nur das Dorf, in dem ich geboren bin», sagte der Restaurateur, der als Drittklässler in unser Land kam. «In der Schweiz kenne ich alles links und rechts. Ich habe hier länger gelebt als in Sri Lanka, die Schweiz ist fast meine Heimat geworden.» So geht es auch den anderen Jungen. «Ich fühle mich nicht gerade als Ausländerin», bestätigte die Schülerin und lachte.

Viele Tamilen sind nur «vorläufig aufgenommen» - ein Nachteil für alle.

(Daniel Suter, Tages-Anzeiger, 26. November 2002)

 
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Locker wie Latinos
 

Essen und Feiern, Erotik und Freude: Mediterranes Lebensgefühl erobert die Schweiz.

Schweizer Kinder werden am häufigsten Laura und Luca getauft, ihre Eltern konsumieren immer mehr Prosecco, Mozzarella und Olivenöl und entwickeln eine fiebrige Fussballeuphorie. Sie spielen Beachvolleyball, pflanzen Palmen auf den Balkon, ärgern die Strassenwischer mit Abfall und die Nachbarn mit Nachtruhestörungen: Die Schweiz wird mediterran. Und das hat politische Folgen.

Es war Ende des vergangenen Novembers. Als die Analysten und Kommentatoren ihre stereotypen Erklärungen zur knappen Ablehnung der SVP-Asylinitiative formuliert und gedruckt hatten, als der Stadt-Land- und der Röstigraben einmal mehr in aller Tiefe ausgelotet waren, da warf der Zürcher Philosophieprofessor Georg Kohler einen Begriff in die Diskussion, der unverbraucht wirkte: «Mediterranisierung». Die hauchdünne Mehrheit (50,1 Prozent) der Stimmenden, die der SVP die Gefolgschaft verweigerten, sagte Kohler, lebe heute eben - im Gegensatz zur SVP-Anhängerschaft - wie die europäischen Nachbarn oltre Gottardo.

Wer zu diesem neuen Mittelmeerstand gehört, den erreichen die SVP-Parolen nicht mehr. Das politische Potenzial dieser Bewegung, glaubt Kohler, wäre noch viel grösser, «wenn es den Mitteparteien CVP und FDP gelänge, diese Menschen für Lebens-Politik zu interessieren». Drei Punkte sind dem Philosophen bezeichnend für die mediterranisierten Schweizer: «die Besetzung des öffentlichen Raumes, das verstärkte Bedürfnis, sich in der Gruppe zu bewegen, und die Erotisierung.»

«La vita sulla strada» - in Zürich, Luzern oder Biel riecht es nach Barcelona, Toscana und Beirut. Auf den Strassen verkehren vermehrt Roller, die Zahl der Strassencafés in Zürich stieg seit 1988 von 270 auf 476. Die Mediterranen haben uns auch die öffentlich gelebte Fussballbegeisterung gelehrt. Die Italiener haben sie vorgemacht, seit sie 1982 den WM-Titel holten. Inzwischen beherrschen auch die Schweizer die Disziplin. Das, was sich am 8. Mai 2002 auf dem Basler Barfüsserplatz abspielte, stellte das Vorbild sogar in den Schatten: 70 000 feierten Meister «FCBeeee» bis in die Morgenstunden mit einer Begeisterung, die bis anhin als unschweizerisch gegolten hatte.
Der Sport ist inzwischen Massstab für gesellschaftliche Trends. In Zürich sind in diesem Jahr vier Tennisplätze umgebaut worden zu Fussball- und Beachvolleyball-Feldern. Begründung des Stadtrats: «Die Tennisplätze waren immer weniger gefragt.» Tennis trifft das Lebensgefühl der Angelsachsen, Beachvolleyball jenes der Latinos. Während beim Tennis zum Aufschlag «Quiet, please!» gilt, spielt beim Beachvolleyball die Erotik zumindest die erste Nebenrolle im Sand. 350 Beachvolleyball-Felder gibt es im Land, Tendenz stark steigend.

Einen «gesunden, spielerischen Exhibitionismus» nennt dies der Philosoph Kohler. Spielerisch, da Hingucken zwar erlaubt, Berühren aber verboten ist. Diese Erotisierung - übernommen aus dem Mittelmeerraum - zeichnet inzwischen das Strassenbild. «Noch 1968», sagt Kohler, «hätte ich mir diese bauchfreien Pullis, die man heute selbst im Winter auf der Strasse sieht, nie vorstellen können.» Die Zürcher Street Parade ist nur die exaltierte Spitze einer Massenbewegung, die mindestens aufs Jahr 1980 zurückgeht, als Zürichs «Bewegig» mit einer Nacktdemo durch die Altstadt zog, um gegen «Packeis» und für «freie Sicht aufs Mittelmeer» zu demonstrieren. «Das Mittelmeer war damals Metapher der Sehnsucht», sagt Markus «Punky» Kenner, der damals Mitbegründer von «Rock als Revolte» war: «Wir tranken Chianti aus Anderthalbliter-Korbflaschen, hörten Eduardo Bennato und träumten von Ferien im warmen Süden - am Mittelmeer.» Das Zürcher AJZ führte 1980 eine Italowoche durch, die Aktionshalle war rotweissgrün geschmückt, und Antonella Martegani von der damaligen Spuntengruppe erinnert sich: «Wir mussten 240 Portionen Lasagne kochen. Es kam mir vor wie in Italien, so heiss war die Stimmung.»

Inzwischen ist das Packeis am Schmelzen, im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Die Durchschnittstemperatur im Sommerhalbjahr stieg in der Nordschweiz seit 1980 von 13,1 auf 15,7 Grad Celsius. In der Falletsche am Zürcher Üetliberg hat Kohler festgestellt, dass «sich ein Regenurwald breitmacht, als ob wir im Mato Grosso wären», und am Römerhof in Zürich «wächst eine Palme, die ich allenfalls in Lugano gesucht hätte». Am Neuenburgersee lebt im Sommer ein Flamingo, der vor drei Jahren erstmals aus der Camargue zugeflogen war. Eine klimatische Erwärmung habe aber immer soziologische Folgen, sagt Kohler: «Wos wärmer wird, löst sich die Erstarrung. Mediterranisierung heisst auch die Mässigung des kleinen, inneren Kommissars, der uns ständig überwacht.»

Mediterranisierung ist mehr als «multikulti»: Es heisst, die Codes der Immigranten nicht nur akzeptieren, sondern einen Teil davon selbst übernehmen. Auswärts essen beim Italiener oder beim Libanesen ist seit Jahrzehnten schick, inzwischen haben die Schweizer die mediterrane Küche gewissermassen verinnerlicht und in der eigenen eingeführt.

Das schlägt sich nieder in einem massiv steigenden Konsum von Olivenöl und Frischfisch - beides Säulen der mediterranen Küche. Der Verbrauch von Olivenöl ist seit 1988 hier zu Lande um 221 Prozent gestiegen, jener von Frischfisch um 52 Prozent. Schweizers liebster Käse ist weder Emmentaler noch Greyerzer, sondern - der Mozzarella. 2,1 Kilo pro Kopf wurden im vergangenen Jahr konsumiert; der grösste Teil stammt inzwischen aus Inlandproduktion.

Freizeitverhalten, Mode, Bewegungsmittel, Ernährung - alles zusammen er- gibt ein Outfit, übrigens ein Ausdruck mit mediterranen Wurzeln, er bezeichnete in den Zwanzigerjahren die Zugehörigkeit zu Al Capones Verbrechersyndikat in Chicago. Die neue Schweizer Mittelmeerklasse ist dagegen eine tolerante Gesellschaft. Überparteilichkeit ist bei ihr Programm. Der Internet-Abstimmungsinfoservice Vo-tez.ch ist eine Art Gegenbewegung zu den Puurezmorge der SVP. Thomas Haemmerli, Gründer von Votez.ch, sagt: «Die urbane, mediterranisierte Gesellschaft hat immer Probleme, wenn sie formulieren muss, was sie genau will. Hingegen weiss sie sehr genau, was sie nicht will. Mediterranisierung ist die Antithese zu Blochers Gesellschaftsmodell.»

Mittelmeer-Identität, schrieb der französische Arabist Thierry Fabre, «ist eine Weise, auf der Welt zu sein». Der Mittelmeerraum, schreibt der deutsche Ethnologe Dieter Haller, «hat eine Fähigkeit, gleich einer Pflanze äussere Einflüsse der Fremden aufzunehmen, deren zerstörerische und verstörende Effekte zu neutralisieren und damit gleichsam den eigenen Lebensrhythmus zu erhalten.» Denn: Die Mediterranisierung hat - von allen anerkannt - natürlich ihre Kehrseiten. Die Zahl der Nachtruhestörungen hat in Zürich im vergangenen Jahr mit 3580 Anzeigen einen neuen Rekord erreicht - im Vorjahr waren es noch 2830. In Basel studiert die Stadtreinigung eine tief greifende Neuorganisation: «Unser Hauptproblem ist, dass die Nachtruhe für Anwohner immer kürzer wird», sagt Martin Bischofberger von der Stadtreinigung. «Wenn um 4 Uhr morgens die letzten Partys zu Ende sind, kommen schon wir von der Stadtreinigung.»
Es sei eben nichts gratis, sagt Philosoph Kohler. «Die Mediterranisierung hat auch eskapistische Züge.» Da gelte es, traditionelle Werte der sesshaften Kultur zu verteidigen: Disziplin, Arbeitsmoral und das Funktionieren der öffentlichen Einrichtungen. Der Werte-Transfer zwischen Sesshaften und Immigranten findet ohnehin statt: «Einwandererkulturen eignen sich immer Teile der sesshaften Kultur an und verändern sie aber auch.» Das heisst: Am Schluss sind wir alle Secondos.
(Daniel Blickenstorfer, Facts, 31. Dezember 2002)

 
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